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Tanz in der Stille: Mein Abend mit Northflip beim Nordischen Klang 2025

Es ist ein Donnerstagabend Anfang Mai, und Greifswald wirkt wie aus der Zeit gefallen. Die Altstadt flimmert im warmen Licht, Menschen schlendern gemächlich durch kopfsteingepflasterte Straßen. Es riecht nach Frühling und Pflasterfugen, nach Bier vom Marktplatz, Döner vom Imbiss und einem Hauch von Ostsee. Ich bin unterwegs zum St. Spiritus, dem Kulturzentrum in der Langen Straße. Drinnen soll heute das finnische Duo Northflip auftreten – ein Act, von dem ich bis vor Kurzem noch nie gehört hatte.

Das St. Spiritus selbst ist ein besonderer Ort. Einst ein Hospital und eine Kapelle aus dem Mittelalter, ist es heute eine kulturelle Oase in der kleinen Universitätsstadt. Mit seinem alten Mauerwerk, den niedrigen Decken und warmen Lichtquellen hat der Veranstaltungsraum etwas von einem Wohnzimmer – klein, eng, aber einladend. Vielleicht ist es das, was die Skandinavier hygge nennen: gemütlich, reduziert, ehrlich. In dieser Atmosphäre wird an diesem Abend nicht einfach nur musiziert – hier wird etwas geteilt, etwas Persönliches.

Ein intellektuelles Publikum – und stille Erwartungen

Als ich den Raum betrete, fällt mir sofort das Publikum auf. Es ist ein recht homogenes Gemisch: Menschen zwischen Mitte 40 und Anfang 60, eher intellektuell, viele mit Halstüchern, Lesebrillen, kunstvollen Ohrringen. Manche wirken beinahe religiös, in einer protestantischen, norddeutsch-asketischen Art. Es ist ruhig. Erwartungsvoll ruhig. Die Gespräche sind leise, respektvoll. Ich fühle mich ein wenig wie auf einem literarischen Salon, etwas deplatziert. Nur dass es heute keine Worte sein werden, die dominieren, sondern Klänge.

Thekla Musäus eröffnet – mit skandinavischer Wärme

Die Eröffnung des Konzerts übernimmt Dr. Thekla Musäus, Fennistin an der Universität Greifswald und Kulturreferentin der Deutsch-Finnischen Gesellschaft, die für Northflip eine Deutschlandtour organisiert hat. Sie begrüßt uns erst auf Finnisch, dann auf Englisch – eine schöne Geste, die dem internationalen Geist des Festivals gerecht wird. Die Verbindung zwischen Universität und Kultur ist hier keine bloße Formalie. Es ist ein echtes Interesse spürbar, eine Nähe, die man in größeren Städten oft vergeblich sucht.

Northflip: Zwei stille Gestalten, ein weiter Klangraum

Dann treten sie auf: Viivi Maria Saarenkylä mit ihrem Akkordeon, und J-P Piirainen an der Gitarre. Beide wirken wie aus einem nordischen Kunstfilm entsprungen – groß, schmal, beinahe zerbrechlich, introvertiert, fast durchscheinend. Sie sagen nicht viel. Ihre Sprache ist die Musik.

Viivi stammt aus dem ostfinnischen Kajaani und hat sich mit ihrem vielseitigen Akkordeonspiel einen Namen gemacht – von traditioneller finnischer Musik bis hin zu elektronischen Experimenten. J-P wiederum ist ein Gitarrist und Komponist aus Lapua, der für seine rhythmischen Fingerstyle-Kompositionen und die Integration folkloristischer Elemente bekannt ist. Beide arbeiten auch unabhängig voneinander, doch als Northflip verbinden sie ihre Klangwelten in einem bemerkenswerten Duo-Projekt.

Dreamer und Tänzer – das Publikum taut auf

Die Musik beginnt zart, fast ätherisch. Der erste Track erinnert an verträumten Easy Listening, durchzogen von nordischer Melancholie. Der zweite Titel heißt „Dreamer“, und er hält, was er verspricht: Ich verliere mich darin, schweife ab, denke an Sommernächte am See, an stille Spaziergänge über zugefrorene Böden. Um mich herum bleibt das Publikum anfangs regungslos. Doch mit jedem weiteren Stück verändert sich etwas im Raum.

Die Musik wird rhythmischer, mitreißender. Die Stücke erzählen von Verlust und Einsamkeit, aber auch von Freude und Neugier. Es ist keine traurige Musik – eher eine, die weiß, was Schmerz ist, und trotzdem tanzen will. Nach der Hälfte beginnen sich Schultern zu bewegen, Füße zu wippen. Schließlich stehen Paare auf, tanzen vorsichtig, dann freier, fast ekstatisch. Ich erkenne ein Muster: Die Stille zu Beginn war keine Abwehr, sondern Ehrfurcht. Und jetzt: Loslassen. 

„Out of the Gray“ und eine Guitele

Kurz vor Schluss spielt das Duo ein Stück namens „Out of the Gray“ – es ist mein persönliches Highlight. Der Titel wirkt wie ein Motto: Raus aus dem Grauen, hinein in Bewegung, Farbe, Licht. J-P stellt dann ein selbstgebautes Instrument vor: die „Guitele“, eine Hybridform aus Gitarre und der finnischen Kantele, einem alten Zupfinstrument. Der Klang ist sanft und schillernd, irgendwie vertraut und doch neu – ein Symbol für alles, was an diesem Abend passiert.

Polka zum Finale – mit einem Augenzwinkern 

Das reguläre Set endet mit einem schnellen, fast treibenden Stück, das das Publikum vollends auf die Beine bringt. Es gibt begeisterten Applaus, Rufe nach einer Zugabe. Northflip kehren zurück – mit einer finnischen Polka, die unüberhörbar an die „Ievan Polkka“ erinnert, diesen viralen Ohrwurm, den man entweder hasst oder insgeheim liebt. Es ist ein augenzwinkerndes Finale, das alle auflockert. Es wird getanzt, geklatscht, gelacht.

Nordischer Klang – ein Festival mit Haltung

Was mich an diesem Abend besonders beeindruckt, ist nicht nur die Musik. Es ist das Gesamterlebnis – getragen vom Festival „Nordischer Klang“, das seit 1992 in Greifswald stattfindet und längst zu den wichtigsten Veranstaltungen für nordische Kultur in Deutschland gehört. Die Nähe zur Universität, die norddeutsche Gelassenheit, das Ernstnehmen von Kunst ohne elitären Dünkel – all das macht dieses Festival zu einem seltenen Ort, an dem Kultur keine Pose ist, sondern ein gelebter Austausch.

Und so gehe ich hinaus in die frische Nachtluft von Greifswald. Noch klingt Musik in meinen Ohren. Ich denke an die Stille zu Beginn und die Bewegung am Ende. Und daran, wie Musik aus dem Norden manchmal braucht, um sich zu entfalten – aber wenn sie es tut, dann leuchtet sie umso heller.

Text: Michel Hillenbach, Fotos: Nicole Strauß